Bundesverfassungsgericht: erneute Anklage für dieselbe Tat ist verfassungswidrig
Auch wenn neue Beweise vorliegen, dürfen freigesprochene Mordverdächtige nicht erneut angeklagt werden. So entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts am 31. Oktober 2023 (Az.: 2 BvR 900/22) und erklärte eine entsprechende Gesetzesänderung der großen Koalition aus 2021 für nichtig. Das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ sei verfassungswidrig, so die Richter. Dieses Gesetz hatte es ermöglicht, Verfahren gegen Personen wiederaufzunehmen, die vom strafrechtlichen Tatvorwurf freigesprochen worden waren. Damit stand es im Widerspruch zum Verbot der Doppelbestrafung („ne bis in idem“).
Gesetz erlaubte die Verfahrenswiederaufnahme aufgrund neuer Beweismittel
Das Gesetz hatte schon länger in der Kritik gestanden, weil es faktisch unbegrenzte Möglichkeiten zur Wiederaufnahme von Strafverfahren geschaffen und in der Folge Freisprüchen die Rechtskraftwirkung genommen hatte.
Einige Jahre vor dem nun gekippten Gesetz war ein Gesetzesentwurf gescheitert, der eine Wiederaufnahme des Verfahrens aufgrund technischer Neuerungen bei den Ermittlungen (z. B. DNA-Analysen) erlauben sollte. Das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit enthält hingegen keine solche Beschränkung, sondern erlaubt die Wiederaufnahme auf Basis jeglicher neuen Beweismittel – seien es technische Ermittlungsverfahren oder Zeugenaussagen.
Damit waren Freisprüche in Strafverfahren unter diesem Gesetz nur vorläufige Ergebnisse und eine Wiederaufnahme des Verfahrens jederzeit wieder möglich. Freigesprochene konnten sich also nie sicher sein, in der gleichen Sache nicht doch erneut angeklagt zu werden. Dem hat das Bundesverfassungsgericht nun ein Ende gesetzt.
Bundesverfassungsgericht: Grundgesetz verbietet Mehrfachverfolgung
Die Richter beriefen sich in ihrem Beschluss auf Artikel 103 Absatz 3 des Grundgesetzes. Dort heißt es: „Niemand darf wegen derselben Tat […] mehrmals bestraft werden.“ Dies gelte auch nach einem Freispruch, so die Senatsvorsitzende. Es handele sich dementsprechend nicht nur um ein Verbot der Mehrfachbestrafung, sondern auch um ein Verbot der Mehrfachverfolgung.
Entscheidend war für die Richter die Frage, ob Eingriffe in das Mehrfachverfolgungsverbot zu Gunsten anderer Rechtsgüter möglich sind, z. B. um eine effiziente Strafverfolgung zu gewährleisten bzw. um Gerechtigkeit zu erreichen. Die Mehrheit des Senats verneinte dies. Das Grundgesetz habe hier eine abschließende und abwägungsfeste Regelung getroffen, so das Bundesverfassungsgericht. Der Rechtsfrieden habe in diesem Zusammenhang Vorrang vor dem Streben nach Gerechtigkeit.
Die Anwaltskanzlei Lenné begrüßt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes. Wer von einem Tatvorwurf freigesprochen wird, muss nun nicht mehr fürchten, sich in derselben Sache erneut auf der Anklagebank wiederzufinden.
Ulrike Frentzen
Angestellte Rechtsanwältin, Fachanwältin für Strafrecht
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