Rechtsprechungsänderung bei fehlender oder fehlerhafter Massenentlassungsanzeige?
Sieht sich ein Unternehmen mit einer wirtschaftlichen Krise konfrontiert, bleibt manchmal nur der großflächige Personalabbau. Dann ist der Arbeitgeber jedoch verpflichtet, eine sog. Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit zu stellen. Doch was passiert, wenn die Massenentlassungsanzeige ausbleibt oder fehlerhaft ist? Mit dieser Frage und den sich daraus ergebenden Konsequenzen beschäftigen sich derzeit das Bundesarbeitsgericht (BAG) und der Europäische Gerichtshof (EuGH).
Ausbleibende oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige: aktuelle Rechtsprechung
Gemäß § 17 Abs. 1 KSchG muss eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit immer dann erfolgen, wenn der Arbeitgeber plant innerhalb von 30 Kalendertagen eine gesetzlich geregelte Zahl an Mitarbeitern zu entlassen. Neben Kündigungen jeglicher Art kann das auch vom Arbeitgeber veranlasste Aufhebungsverträge beinhalten. Ab welcher Anzahl von Entlassungen eine Anzeige verpflichtend ist, hängt dabei von der Größe des Unternehmens ab. Gibt es einen Betriebsrat, muss mit diesem im Vorfeld ein sog. Konsultationsverfahren durchgeführt werden. Im Zuge der Massenentlassungsanzeige muss der Arbeitgeber der Agentur für Arbeit u. a. folgende Angaben machen: Name, Sitz und Art des Unternehmens, Gründe für die geplanten Entlassungen, Angaben zu den betroffenen Mitarbeitern und die Kriterien, nach denen diese ausgewählt wurden.
Bislang legen weder das deutsche Kündigungsschutzgesetz noch das Unionsrecht eine zwingende Rechtsfolge für den Fall fest, dass ein Arbeitgeber entweder gar keine oder aber eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige stellt. Doch nach ständiger BAG-Rechtsprechung stellt dies einen Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot dar, das zur Unwirksamkeit aller ausgesprochenen Kündigungen führt. Dabei ist es irrelevant, ob tatsächlich individuelle Kündigungsgründe vorliegen. Eine ausbleibende oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige führt daher bislang zu drastischen rechtlichen sowie finanziellen Konsequenzen für das kündigende Unternehmen. Das nachträgliche Korrigieren bestehender Mängel bzw. Formfehler der Massenentlassungsanzeige war bislang nicht möglich.
VI. Senat des BAG plant Änderung seiner Rechtsprechung
Doch das könnte sich möglicherweise bald ändern. Denn laut einer Entscheidung des EuGH vom 13.07.2023 dient die Pflicht, eine Massenentlassungsanzeige an die zuständige Agentur für Arbeit zu stellen, nicht dem Schutz des einzelnen, gekündigten Arbeitnehmers. Stattdessen soll dadurch gewährleistet werden, dass die Agentur für Arbeit frühzeitig informiert und involviert wird, damit sie ihre Aufgabe, die entlassenen Mitarbeiter zu vermitteln, angemessen erfüllen kann. Dieser EuGH-Beschluss ging auf eine Anfrage des VI. Senats des BAG vom 27.01.2022 (Az.: 6 AZR 155/21) zurück.
Aufgrund dieser EuGH-Entscheidung plant der VI. Senat des Bundesarbeitsgerichts nun eine Änderung seiner Rechtsprechung, nach der eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige oder das Ausbleiben einer solchen nicht automatisch zur Unwirksamkeit der Kündigungen führt. Denn nach Auffassung des VI. Senats sei eine derart schwere Sanktion unionsrechtlich nicht geboten.
Eine solche Änderung würde jedoch auch von der Rechtsprechung des II. Senats des BAG abweichen. Daher stellte der VI. Senat an diesen eine sog. Divergenzanfrage. Dabei soll geklärt werden, ob der II. Senat an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalten möchte.
EuGH soll Fragen zur Massenentlassungsanzeige klären
Doch der II. Senat stimmte der neuen Rechtsauffassung des VI. Senats nicht vollumfänglich zu. So sei es nicht mit Unionsrecht vereinbar, dass eine fehlende oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige keine rechtlichen Auswirkungen auf die Beendigung der gekündigten Arbeitsverhältnisse haben solle. Zwar müssten die ausgesprochenen Kündigungen nicht zwingend unwirksam sein – so könnte deren Rechtmäßigkeit etwa durch die nachträgliche ordnungsgemäße Anzeige bei der Agentur für Arbeit wiederhergestellt werden. Man müsse dabei jedoch unterscheiden, ob lediglich eine fehlerhafte Anzeige gestellt wurde oder gar keine.
Der II. Senat des BAG setzte das Anfrageverfahren aus und wandte sich seinerseits an den EuGH, der diese Fragen nun klären soll. Zusätzlich dazu hat nun auch der VI. Senat des BAG den EuGH um Klärung in der weiterführenden Frage gebeten, ob der Zweck einer Massenentlassungsanzeige auch dann erfüllt sei, wenn diese zwar fehlerhaft ist, aber von der Agentur für Arbeit nicht beanstandet wird.
Mögliche Rechtsprechungsänderung hat keinen Einfluss auf Konsultationsverfahren mit Betriebsrat
Arbeitgeber sollten jedoch beachten, dass sich eine mögliche Änderung der Rechtsprechung nur auf die Massenentlassungsanzeige selbst beziehen würde. Andere Auflagen, wie die ordnungsgemäße Durchführung des Konsultationsverfahrens mit dem Betriebsrat, sofern vorhanden, bleiben davon unberührt. So sind sich beide Senate des BAG einig, dass sämtliche ausgesprochenen Kündigungen weiterhin unwirksam sind, wenn es zu Fehlern im Konsultationsverfahren kommt.
Das bestätigte auch der EuGH, der außerdem mit Urteil vom 22.02.2024 (Rs. C-589/22) klarstellte, dass der Betriebsrat bei Massenentlassungen schon dann zurate gezogen werden muss, wenn der Arbeitgeber einen Personalabbau erstmals erwägt. Gleiches gilt, wenn klar wird, dass die Anzahl der Entlassungen die festgelegten Schwellenwerte überschreiten könnte. Die Pflicht zur Konsultation mit dem Betriebsrat besteht also schon vor der endgültigen Entscheidung des Arbeitgebers, Kündigungen auszusprechen.
Unabhängig von der möglichen Rechtsprechungsänderung haben Arbeitgeber vieles zu beachten, wenn sie einen Stellenabbau im großen Stil planen. In der Anwaltskanzlei Lenné stehen wir betroffenen Arbeitnehmern zur Seite, prüfen die Rechtmäßigkeit der Kündigung und fechten diese ggf. an. Wenn Sie von einer Massenentlassung betroffen sind, vereinbaren Sie einfach einen Termin für eine kostenlose, unverbindliche Erstberatung.

Martina Bergmann
Angestellte Rechtsanwältin
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